J
Jakraphong
Gast
Bangkok. Das Box-Camp von Nakhon Tong Parkkview in Bangkoks Altstadt ist unscheinbar. Ein betonierter Platz mit dem Charme eines Gefängnishofs, dahinter eine Baracke. Mittendrin ein Hochring unter einem rissigen Blechdach. Zwei Dutzend Teenager dreschen wild schreiend auf Sandsäcke ein und üben vor halbblinden Spiegeln Box- und Tritt-Techniken. Immer volle Intensität: 30 Runden a drei Minuten, unterbrochen von einminütigen Pausen. Vorher sind sie neunzig Minuten lang gejoggt - bei mehr als dreißig Grad im Schatten, 95 Prozent Luftfeuchtigkeit und exorbitanten Smogwerten. Trainingsroutine: dreieinhalb Stunden morgens, dreieinhalb nachmittags. Tagaus, tagein.
An Orten wie diesem wird die Elite im Thai-Boxen gedrillt. Von Leuten wie Cheftrainer Sapaphet Kiatphetnoi. Er hockt auf einem Mäuerchen, Schmiß auf der Wange, Zigarette im Mundwinkel, und wirkt angespannt. Der Star seines Camps, Sila Tor-Bangsaen, hat morgen einen Titelkampf. Zwar nur in Omnoi, einem Stadion in der Provinz. Die Meisterschaft dort zählt nicht soviel wie Titel im Lumpinee oder Rajadamnoen, Bangkoks bekanntesten Arenen. Aber Kanal 7, ein Fernsehsender, überträgt live.
Sila ist nur 1,65 Meter groß. Mit elf stand er zum ersten Mal im Ring. Auf einem Volksfest in Kamphaeng Phet, seiner Heimatprovinz im Nordwesten Thailands. 120 Baht hat er für den Sieg bekommen, knapp drei Euro. Von diesem Tag an war klar: Er wollte Boxer werden. Jeden Tag nach der Schule hat er geübt. Mit 14 ging er nach Bangkok. Gegen den Willen seiner Eltern. Und eigentlich zu spät.
"Um richtig gut zu werden", sagt Sapaphet, "muß man mit zehn oder elf anfangen, professionell zu trainieren." Bis auf Kopfstöße und Tiefschläge ist beim Thai-Boxen alles erlaubt. Die daraus resultierenden Techniken sind kompliziert und erfordern jahrelangen Feinschliff. Wer Profi werden will, steht zudem unter gewaltigem Konkurrenzdruck. Mehr als 60000 Boxer gibt es in Thailand. Sie kämpfen um Preisgelder, die selbst bei Titelkämpfen selten über 100000 Baht (rund 2800 Euro) liegen. Davon kassieren Boxstall und Trainer fünfzig Prozent. Der Rest ist immer noch zehnmal mehr, als ein Reisbauer im armen Nordosten im Jahr verdient.
Für seinen Traum nimmt Sila viele Entbehrungen auf sich. Er lebt mit zwei anderen in einem winzigen fensterlosen Raum in der Baracke. Er ißt auf dem Fußboden, weil es im ganzen Camp weder Tisch noch Stuhl gibt. Geduscht wird unter einem Gartenschlauch im Hof. Nie war ihm eine Übung zu schwer oder zu lang, oft hat er noch ein bißchen mehr getan als die anderen.
Sila hat sich in den verqualmten Bretterbuden der Vorstädte nach oben durchgeboxt. Die ganze Nacht hindurch treten dort Acht-, Neunjährige gegeneinander an - offiziell dürfen Kinder in Thailand erst ab zwölf arbeiten. Und weil Sila im Ring nur eine Richtung kennt, ist er zum Publikumsliebling geworden. Andere mögen feiner boxen, bei ihm ist Ac tion garantiert. Nun ist er zwanzig und hat 75 Mal im Ring gestanden. Die meisten seiner Altersgenossen bringen es auf weit über hundert Kämpfe. Ein, zwei gute Jahre bleiben ihm noch. Thai-Boxen verlangt nach jungen, geschmeidigen Körpern. Wer weiß, ob ihm bei einer Niederlage noch einmal ein Titelkampf angeboten wird?
Der Kampf in Omnoi ist die Chance, auf die Sila so lange gewartet hat. Nicht nur für ihn selbst. Jeden Monat schickt er seinen Eltern Geld. Meist 8000 Baht, wenn er zweimal boxt, sind es 10000. In Klong Lam, Silas Heimatdorf, ist das viel Geld. Klong Lam liegt in einer fruchtbaren Ebene. Reisfelder, wohin man blickt, begrenzt von üppig grünen Bergen. Hundert Menschen leben dort. Autos gibt es nicht. Eselskarren rumpeln über die Straßen. Wer wohlhabend ist, leistet sich ein Mofa. Urai und Plian, Silas Eltern, sind Reisbauern. Anfangs besaßen sie vier Rai Ackerfläche, etwas mehr als einen halben Hektar. Damit kam die fünfköpfige Familie gerade über die Runden. Nun bewirtschaften sie 38 Rai. Sie haben die beiden Töchter auf eine bessere Schule geschickt und ihr Haus, einen hölzernen Pfahlbau, renoviert. Unten einen Tante-Emma-Laden reingequetscht und hinten eine abstellkammergroße Fläche eingemauert und mit Feuerstelle versehen - die Küche. Die gesamte Familie schläft im einzigen Raum im ersten Stock. Fließendes Wasser gibt es nicht, im Hof steht ein Plumpsklo. "Was wir haben, verdanken wir Sila", sagt Plian.
Das Siam-Stadion in Omnoi ist eine Bruchbude. Morsche Pfeiler stützen das Dach. Durch eine Außenwand zieht sich ein armbreiter Riß, in der anderen klafft ein Loch wie von einem Kanoneneinschlag. "Waffen verboten", verkündet ein Schild am Eingang. Im Hinterraum, dort, wo die Boxer sich vorbereiten, geht es zu wie in einem Taubenschlag. In einer Ecke wird dem Sieger des letzten Vorkampfes ein Eimer mit Trinkwasser gereicht, in der anderen hockt der Verlierer mit gesenktem Kopf. Aus der Halle schallt buddhistische Tempelmusik herüber, die jeden Kampf untermalt. Und immer wieder ein tausendstimmiges "Oey!", auf deutsch "Aua", mit dem die Zuschauer Treffer bejubeln.
Auf einer Eisenpritsche mitten im Raum wird Sila mit Minzöl eingerieben. Seine Eltern stehen neben ihm. Plian hat ein Tuch gekauft und es von einem Mönch weihen lassen. Nun bindet er es Sila um den rechten Bizeps. Der scheint das gar nicht zu bemerken. Phetarun, sein Gegner, macht sich mitten im Raum mit Schattenboxen warm. Auch dafür hat Sila keinen Blick. Wie in Trance folgt er Sapaphet in die Halle. Die Boxer werden vorgestellt, führen den Wai Kru auf - einen traditionellen Tanz zu Ehren ihres Lehrers. Dann geht es los.
Sofort rasen die beiden Kämpfer aufeinander zu. Phetarun täuscht eine Linke an, Sila wehrt mit dem rechten Arm ab. Er kontert mit dem Knie, Phetarun blockt. Darauf hat Sila nur gewartet. "Oey!" Er rammt ihm das andere Knie in die Leber und will eine Rechte hinterherjagen. Phetarun weicht aus, drückt Sila mit dem Knie in die Seile. Der reißt die Arme hoch. Schon saust eine Serie von Schlägen auf ihn nieder. Sila verschränkt die Arme vorm Gesicht, stürzt vorwärts, befreit sich aus dieser brenzligen Situation. Und greift sofort wieder an.
In seiner Ecke ist derweil die Hölle los. Alle aus dem Camp sind gekommen, bei jedem Treffer von Sila schreien sie. Der Kampf wogt hin und her. Fünf Runden a drei Minuten. In der dritten schlägt Sila seinen Gegner nieder. In der vierten kassiert er einen Kopftreffer, blutet über der Augenbraue, in der fünften Runde wird nur noch geklammert. Beide haben sich verausgabt. Dann ist Schluß. Beide jubeln, ein letzter Versuch, die Kampfrichter zu beeinflussen.
Es dauert geschlagene fünf Minuten, bis das Urteil verkündet wird. 2:1 Richterstimmen für Sila. Als Erster ist Sapaphet im Ring, erdrückt ihn fast vor Freude. Dann tragen sie Sila auf Händen in den Hinterraum. Eine Feier wird improvisiert. Jemand hat ein paar Flaschen Singha-Bier organisiert. Zum ersten Mal huscht ein Lächeln über Silas sonst immer ernstes Gesicht. Auch Satui taucht auf, der Besitzer des Camps. Noch während des Kampfes hat er einen Deal mit Kanal 7 gemacht. Sila soll um die Meisterschaft des Fernsehsenders boxen. Allerdings schon in zwei Wochen. "Morgen früh beginnt die Vorbereitung", sagt Sapaphet. Sila nickt stumm.
Urai kramt einen Zettel hervor. Der erste Fanbrief, den Sila bekommen hat. Stolz liest sie vor: "Lieber Sila Tor-Bangsaen. Ich verfolge Deine Kämpfe schon lange. Ich mag Deinen Stil. So wie Du würde ich auch gerne boxen können. Für mich bist Du der beste Boxer aus Kamphaeng Phet und wirst eines Tages der beste Boxer Thailands sein. Ich wünsche Dir alles Gute und viel Glück."
Quelle:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 7.4.2002 (Jakraphong)
An Orten wie diesem wird die Elite im Thai-Boxen gedrillt. Von Leuten wie Cheftrainer Sapaphet Kiatphetnoi. Er hockt auf einem Mäuerchen, Schmiß auf der Wange, Zigarette im Mundwinkel, und wirkt angespannt. Der Star seines Camps, Sila Tor-Bangsaen, hat morgen einen Titelkampf. Zwar nur in Omnoi, einem Stadion in der Provinz. Die Meisterschaft dort zählt nicht soviel wie Titel im Lumpinee oder Rajadamnoen, Bangkoks bekanntesten Arenen. Aber Kanal 7, ein Fernsehsender, überträgt live.
Sila ist nur 1,65 Meter groß. Mit elf stand er zum ersten Mal im Ring. Auf einem Volksfest in Kamphaeng Phet, seiner Heimatprovinz im Nordwesten Thailands. 120 Baht hat er für den Sieg bekommen, knapp drei Euro. Von diesem Tag an war klar: Er wollte Boxer werden. Jeden Tag nach der Schule hat er geübt. Mit 14 ging er nach Bangkok. Gegen den Willen seiner Eltern. Und eigentlich zu spät.
"Um richtig gut zu werden", sagt Sapaphet, "muß man mit zehn oder elf anfangen, professionell zu trainieren." Bis auf Kopfstöße und Tiefschläge ist beim Thai-Boxen alles erlaubt. Die daraus resultierenden Techniken sind kompliziert und erfordern jahrelangen Feinschliff. Wer Profi werden will, steht zudem unter gewaltigem Konkurrenzdruck. Mehr als 60000 Boxer gibt es in Thailand. Sie kämpfen um Preisgelder, die selbst bei Titelkämpfen selten über 100000 Baht (rund 2800 Euro) liegen. Davon kassieren Boxstall und Trainer fünfzig Prozent. Der Rest ist immer noch zehnmal mehr, als ein Reisbauer im armen Nordosten im Jahr verdient.
Für seinen Traum nimmt Sila viele Entbehrungen auf sich. Er lebt mit zwei anderen in einem winzigen fensterlosen Raum in der Baracke. Er ißt auf dem Fußboden, weil es im ganzen Camp weder Tisch noch Stuhl gibt. Geduscht wird unter einem Gartenschlauch im Hof. Nie war ihm eine Übung zu schwer oder zu lang, oft hat er noch ein bißchen mehr getan als die anderen.
Sila hat sich in den verqualmten Bretterbuden der Vorstädte nach oben durchgeboxt. Die ganze Nacht hindurch treten dort Acht-, Neunjährige gegeneinander an - offiziell dürfen Kinder in Thailand erst ab zwölf arbeiten. Und weil Sila im Ring nur eine Richtung kennt, ist er zum Publikumsliebling geworden. Andere mögen feiner boxen, bei ihm ist Ac tion garantiert. Nun ist er zwanzig und hat 75 Mal im Ring gestanden. Die meisten seiner Altersgenossen bringen es auf weit über hundert Kämpfe. Ein, zwei gute Jahre bleiben ihm noch. Thai-Boxen verlangt nach jungen, geschmeidigen Körpern. Wer weiß, ob ihm bei einer Niederlage noch einmal ein Titelkampf angeboten wird?
Der Kampf in Omnoi ist die Chance, auf die Sila so lange gewartet hat. Nicht nur für ihn selbst. Jeden Monat schickt er seinen Eltern Geld. Meist 8000 Baht, wenn er zweimal boxt, sind es 10000. In Klong Lam, Silas Heimatdorf, ist das viel Geld. Klong Lam liegt in einer fruchtbaren Ebene. Reisfelder, wohin man blickt, begrenzt von üppig grünen Bergen. Hundert Menschen leben dort. Autos gibt es nicht. Eselskarren rumpeln über die Straßen. Wer wohlhabend ist, leistet sich ein Mofa. Urai und Plian, Silas Eltern, sind Reisbauern. Anfangs besaßen sie vier Rai Ackerfläche, etwas mehr als einen halben Hektar. Damit kam die fünfköpfige Familie gerade über die Runden. Nun bewirtschaften sie 38 Rai. Sie haben die beiden Töchter auf eine bessere Schule geschickt und ihr Haus, einen hölzernen Pfahlbau, renoviert. Unten einen Tante-Emma-Laden reingequetscht und hinten eine abstellkammergroße Fläche eingemauert und mit Feuerstelle versehen - die Küche. Die gesamte Familie schläft im einzigen Raum im ersten Stock. Fließendes Wasser gibt es nicht, im Hof steht ein Plumpsklo. "Was wir haben, verdanken wir Sila", sagt Plian.
Das Siam-Stadion in Omnoi ist eine Bruchbude. Morsche Pfeiler stützen das Dach. Durch eine Außenwand zieht sich ein armbreiter Riß, in der anderen klafft ein Loch wie von einem Kanoneneinschlag. "Waffen verboten", verkündet ein Schild am Eingang. Im Hinterraum, dort, wo die Boxer sich vorbereiten, geht es zu wie in einem Taubenschlag. In einer Ecke wird dem Sieger des letzten Vorkampfes ein Eimer mit Trinkwasser gereicht, in der anderen hockt der Verlierer mit gesenktem Kopf. Aus der Halle schallt buddhistische Tempelmusik herüber, die jeden Kampf untermalt. Und immer wieder ein tausendstimmiges "Oey!", auf deutsch "Aua", mit dem die Zuschauer Treffer bejubeln.
Auf einer Eisenpritsche mitten im Raum wird Sila mit Minzöl eingerieben. Seine Eltern stehen neben ihm. Plian hat ein Tuch gekauft und es von einem Mönch weihen lassen. Nun bindet er es Sila um den rechten Bizeps. Der scheint das gar nicht zu bemerken. Phetarun, sein Gegner, macht sich mitten im Raum mit Schattenboxen warm. Auch dafür hat Sila keinen Blick. Wie in Trance folgt er Sapaphet in die Halle. Die Boxer werden vorgestellt, führen den Wai Kru auf - einen traditionellen Tanz zu Ehren ihres Lehrers. Dann geht es los.
Sofort rasen die beiden Kämpfer aufeinander zu. Phetarun täuscht eine Linke an, Sila wehrt mit dem rechten Arm ab. Er kontert mit dem Knie, Phetarun blockt. Darauf hat Sila nur gewartet. "Oey!" Er rammt ihm das andere Knie in die Leber und will eine Rechte hinterherjagen. Phetarun weicht aus, drückt Sila mit dem Knie in die Seile. Der reißt die Arme hoch. Schon saust eine Serie von Schlägen auf ihn nieder. Sila verschränkt die Arme vorm Gesicht, stürzt vorwärts, befreit sich aus dieser brenzligen Situation. Und greift sofort wieder an.
In seiner Ecke ist derweil die Hölle los. Alle aus dem Camp sind gekommen, bei jedem Treffer von Sila schreien sie. Der Kampf wogt hin und her. Fünf Runden a drei Minuten. In der dritten schlägt Sila seinen Gegner nieder. In der vierten kassiert er einen Kopftreffer, blutet über der Augenbraue, in der fünften Runde wird nur noch geklammert. Beide haben sich verausgabt. Dann ist Schluß. Beide jubeln, ein letzter Versuch, die Kampfrichter zu beeinflussen.
Es dauert geschlagene fünf Minuten, bis das Urteil verkündet wird. 2:1 Richterstimmen für Sila. Als Erster ist Sapaphet im Ring, erdrückt ihn fast vor Freude. Dann tragen sie Sila auf Händen in den Hinterraum. Eine Feier wird improvisiert. Jemand hat ein paar Flaschen Singha-Bier organisiert. Zum ersten Mal huscht ein Lächeln über Silas sonst immer ernstes Gesicht. Auch Satui taucht auf, der Besitzer des Camps. Noch während des Kampfes hat er einen Deal mit Kanal 7 gemacht. Sila soll um die Meisterschaft des Fernsehsenders boxen. Allerdings schon in zwei Wochen. "Morgen früh beginnt die Vorbereitung", sagt Sapaphet. Sila nickt stumm.
Urai kramt einen Zettel hervor. Der erste Fanbrief, den Sila bekommen hat. Stolz liest sie vor: "Lieber Sila Tor-Bangsaen. Ich verfolge Deine Kämpfe schon lange. Ich mag Deinen Stil. So wie Du würde ich auch gerne boxen können. Für mich bist Du der beste Boxer aus Kamphaeng Phet und wirst eines Tages der beste Boxer Thailands sein. Ich wünsche Dir alles Gute und viel Glück."
Quelle:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 7.4.2002 (Jakraphong)